Historikertag 2002: Geschichte und Medien zwischen Unterhaltung und Aufklärung: Diktaturen des 20. Jahrhunderts in Film und Fernsehen der Bundesrepublik Deutschland

Historikertag 2002: Geschichte und Medien zwischen Unterhaltung und Aufklärung: Diktaturen des 20. Jahrhunderts in Film und Fernsehen der Bundesrepublik Deutschland

Organisatoren
44. Deutscher Historikertag
Ort
Halle an der Saale
Land
Deutschland
Vom - Bis
13.09.2002 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Barbara von der Lühe, Berlin

Zur Jahrtausendwende sehen sich Zuschauer im "CNN-Zeitalter" zunehmend in der Rolle des scheinbar weltweit präsenten Zeitzeugen, was besonders während der schrecklichen Ereignisse in New York und Washington am 11. September 2001 deutlich wurde. Neuere Untersuchungen zeigen, dass das Fernsehen das Medium ist, das als häufigste Informationsquelle dient, und zwar für alle Altersgruppen. Und längst sind Film und Fernsehen im vereinten Deutschland zu Instanzen öffentlicher Geschichtskultur geworden, die sich selbstbewusst mit Tradition und nationaler Identität auseinandersetzen, die aber auch Visionen von Politik und Gesellschaft der "Berliner Republik" entwickeln. Anlass genug also, um auf dem 44. Deutschen Historikertag auch über die Bedeutung der Medien für die Geschichtswissenschaft zu debattieren. Unter der Leitung von Barbara von der Lühe (Berlin) tagte die Sektion "Geschichte und Medien zwischen Unterhaltung und Aufklärung: Diktaturen des 20. Jahrhunderts in Film und Fernsehen der Bundesrepublik Deutschland". Leider musste Knut Hickethier (Hamburg) aus zwingenden Gründen seinen Vortrag über "Das Leben unter Diktaturen - der Fernsehfilm der fünfziger und sechziger Jahre in der Bundesrepublik" ganz kurzfristig absagen. Zum Auftakt der Vormittagssitzung analysierte Edgar Lersch (Stuttgart/Halle a. d. Saale) TV-Dokumentationen zum Thema Holocaust im medialen Kontext der Bundesrepublik Deutschland: Am Beispiel einzelner Folgen über die Shoah aus den unter der Verantwortung des Süddeutschen Rundfunks Stuttgart produzierten Serien "Das Dritte Reich" (1960/61) und "Europa unterm Hakenkreuz - Städte und Stationen" (1982/83) präsentierte Lersch entscheidende Etappen der Entwicklung der Auseinandersetzung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens mit dem Nationalsozialismus. Mit der 13teiligen Dokumentarserie "Das Dritte Reich" habe, so Lersch, das Deutsche Fernsehen die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus begonnen. Lersch verdeutlichte mit Ausschnitten aus der Folge "Der SS-Staat" das Bemühen der Redaktion und der Autoren Hans Huber und Artur Müller um eine "nüchterne", aber "fernsehgerechte" Darstellung der Fakten; auf die geistigen Voraussetzungen des Nationalsozialismus glaubte man 1961 nur andeutungsweise eingehen zu können. Während das Genre der zeitgeschichtlichen Geschichtsdokumentation insbesondere über die NS-Zeit Anfang der 60er Jahre noch wenig ausgebildet gewesen sei, habe sich, so Lersch, zu Beginn der 80er Jahre bereits ein Bedeutungs- und Bilderkanon entwickelt. Zudem seien in der SDR-Redaktion als Reaktion auf die erfolgreiche TV-Serie "Holocaust" (USA 1969) bei der Vorbereitung der Serie "Europa unterm Hakenkreuz" Überlegungen über Art und Ausmaß einer Emotionalisierung des Themas angestellt worden. Schließlich habe sich als Konzession an eine zuschauerfreundliche Dramaturgie das regionale Konzept "Städte und Stationen" durchgesetzt. Lersch kritisierte die inhaltliche und stilistische Unentschlossenheit der SDR-Redaktion, die er am Beispiel der Folge "Auschwitz" demonstrierte: Im Gegensatz zu anderen Autoren der Serie habe der Schweizer Filmemacher Roman Brodmann Zeitzeugenaussagen genutzt. Außerdem bediente er sich zeitgenössischer Amateurfilm-Aufnahmen, die harmonisches Familienleben in Deutschland jenseits von Front und Vernichtungslagern zeigen, ergänzt durch Ausschnitte aus Spielfilmen wie das "Große Wunschkonzert". Informationen über die Shoah seien aber größtenteils mit historischem Bild- und Filmmaterial vermittelt worden, das bereits in dem Film "Der SS-Staat" gezeigt wurde. Eine Erklärung für den Völkermord habe Brodmann in seinem Film von 1982 ebenso wenig angeboten wie die Autoren der Produktion von 1961. Die Verantwortung für den Genozid an den Juden - andere Opfergruppen blieben in diesen Dokumentationen weitgehend ausgeblendet -, sahen die Autoren beider Serien bei Hitler und der NS-Führungselite.

Mit Jugend und faschistischen Verführungen im Werk des Regisseurs Volker Schlöndorff setzte sich Hans-Bernhard Möller (Austin /Texas) auseinander: Die Analyse von Schlöndorffs Filmen "Der Unhold" (1996), "Die Blechtrommel" (1979) und "Der junge Törless" (1965/66) brachte die Fokussierung auf durch sexuelle Motive bedingte Täter-Opferbeziehungen zwischen Jugendlichen und Erwachsenen zutage. Schlöndorff zeige, so Möller, die Problematik sexueller Schuld und Unschuld im Kontext mit der Thematik des Nationalsozialismus. Beim Törless-Stoff sei es Schlöndorff um die psychosexuelle Komponente faschistischer Kontrolle gegangen, für den Regisseur auf metaphorischer Ebene ein Paradebeispiel für den mitteleuropäischen Faschismus und seine Unmenschlichkeit. In der "Blechtrommel" habe der Regisseur die Aggression des Kleinbürgertums während des Dritten Reichs bloß gestellt. Zugespitzt erscheine die sexuelle Thematik in dem Film "Der Unhold": Schlöndorff präsentiere hier deutlicher als in anderen seiner Werke die verführerischen Attribute des Faschismus, die er - über eine umfassende Metapher - mit Pädophilie assoziiere: Der Film erzählt die Geschichte eines einfältigen, aber gutmütigen Hünen aus Frankreich, den die Kriegsgefangenschaft während des Zweiten Weltkrieges nach Deutschland verschlägt. Dort arbeitet er in einer Nationalsozialistischen Erziehungsanstalt, seine Leidenschaft gilt der Sorge um die heranwachsenden Jungen. Als die Burg von einem russischen Panzerverband angegriffen wird, misslingt es ihm, seine Schützlinge zur Flucht zu bewegen, die lieber den sicheren "Helden-Tod suchen. Er flieht aber mit einem jüdischen Jungen, den er gerettet hat, aus dem Inferno. Dieser Schluss, so erläuterte Möller, weiche ab von der literarischen Vorlage, Michel Tourniers Roman "Der Erlkönig" ("Le roi des aulnes", 1970), der kein "Happy-End" habe. "Der Unhold", im Gegensatz zu den beiden anderen erwähnten Filmen kein Publikumserfolg, sei von der Filmkritik kühl aufgenommen worden; man habe Schlöndorff angelastet, einer "Neuen Unbefangenheit" im Umgang mit den Bildern des Nationalsozialismus Vorschub zu leisten. Möller verwies in diesem Zusammenhang auf den grundsätzlichen Wandel des Umgangs mit der Geschichte des Dritten Reichs im deutschen Film seit den 80er Jahren, nämlich der Erzählung des Zweiten Weltkrieges aus deutscher Perspektive. Dieser Wandel kennzeichne schon Wolfgang Petersens Das Boot und setze sich mit Joseph Vilsmaiers "Stalingrad" (1993), aber auch in persönlicheren, anspruchsvollen Leinwandwerken wie Helke Sanders "Befreier und Befreite" (1992). Dass in diesen Filmen nicht allein Deutsche Täter seien, habe auch die Intention, so Möller, das deutsche Publikum zu einem Diskurs nationaler Trauer zu bewegen. So habe Schlöndorff von dem Unhold -Film als einem "Requiem" gesprochen - dies lege nahe, dass der Diskurs über die Schuld des Dritten Reichs für Schlöndorff nicht nur das Schuldbewusstsein über den Holocaust einschließen solle, sondern auch über das Leben tausender junger Deutscher, die geopfert wurden.

Katrin Fahlenbrach und Reinhold Viehoff (beide Halle a. d. Saale) referierten ausgehend von Walter Benjamins Begriff des Authentischen über "Ikonen des Jahrhunderts und die verschwindende Differenz von Authentizität und Inszenierung der Bilder in der Geschichte". Fahlenbrach ging in ihren Überlegungen von drei Thesen aus: 1. Medienbilder sind grundsätzlich inszeniert und nur unter Berücksichtigung des jeweiligen Mediums analysierbar, ästhetisch, politisch, ideologisch. 2. Medienbilder schaffen zeitgenössische Medienwirklichkeiten und müssen daher als historisches Material auf ihren Entstehungs- und Verwendungszusammenhang im Kontext der medialen Bildergeschichte und Bildgenres interpretiert werden. 3. Neue soziale Bewegungen haben seit den 60er Jahren die visuelle und affektive Bedeutung der Medienbilder erkannt und zur Grundlage der Visualisierung ihrer Proteste gemacht. Die 60er Jahre bezeichnete Fahlenbrach daher als medienhistorische Schwellensituation, in der sich die Standards medialer Repräsentationsästhetik entscheidend veränderten, wobei dem Fernsehen als Leitmedium eine immer bedeutendere Rolle zukam - Fernsehübertragungen wurden schließlich zu historischen Ereignissen. Fahlenbrach hob in diesem Zusammenhang die Bedeutung der massenmedialen Inszenierung symbolischer Protestaktionen der Studenten- und Friedensbewegung in den 60er Jahren hervor, als Auftakt zur medial wirksamen Inszenierung politischen Protests. Fahlenbrach machte deutlich, wie sehr Bilder die kulturelle Wahrnehmung medienpolitisch quasi "disziplinierten" - an die Stelle von authentischen Bildern trete das visuelle Zitat, an die Stelle von Tradition die visuelle Inszenierung bewährter Bilder. So zitiere beispielsweise das berühmte Foto von den Trümmern des World Trade Center vertraute, ikonografische Bildtraditionen in Gestalt des Bildes "Gescheiterte Hoffnung" von Caspar David Friedrich (1823/25), das von den Zeitgenossen und Experten als ikonischer Ausdruck der politischen Kälte und Hoffnungslosigkeit in Europa nach dem Wiener Kongress - ebenso wurde das Bild vom Ground Zero zum Symbol amerikanischer Trauerarbeit. Der Verlust der Differenz von Einmaligkeit und Reproduzierbarkeit, zwischen Authentischem und Inszenierung in der massenhaften medialen Vermittlung und Konsums von Bildern wiege besonders schwer, wenn Medienbilder als Dokumente historischer Ereignisse und als alltägliche Grundlagen der Konstituierung eines zeitgenössischen Weltbildes genutzt würden. Daher seien Medienbilder, die zu zeitgenössischen Ikonen werden, als historisches Quellenmaterial geeignet - schließlich sei das historische Bewusstsein im Zeitalter der Massenmedien untrennbar mit den kanonischen Bildern verbunden, mit denen die Medien den Augenblick eines Ereignisses festhalten, und die von diesem Augenblick eine über sich selbst hinausweisende Bedeutung erhielten.

Barbara von der Lühe (Berlin) berichtete über das Praxisprojekt "Zeitzeugen der NS-Zeit im Offenen Kanal", das sie an der TU im Rahmen des Hauptstudiengangs Medienberatung über mehrere Semester an der Technischen Universität Berlin durchführte, in Kooperation mit dem Offenen Kanal Berlin. Ausgangspunkt des Projekts war die Kritik am Umgang mit Zeitzeugen in Fernseh-Dokumentationen zur Zeitgeschichte: Sendungen mit Zeitzeugen-Interviews habe es im deutschen Fernsehen schon ansatzweise in den 60er und 70er Jahren gegeben, allerdings hätten zunächst Vorbehalte gegen die Bedeutung mündlicher Aussagen als "geschichtliche Quelle" überwogen. Die Möglichkeit, das Publikum mit Zeitzeugen zu faszinieren, zu emotionalisieren und mit ihnen "Quote" zu machen, sei erst im Laufe der 90er Jahre von den Fernsehanstalten erkannt worden. So komme Zeitzeugenaussagen heutzutage zwar eine zunehmende Bedeutung zu, allerdings fehle das Sich-Einlassen auf den Zeitzeugen in den meisten TV- Produktionen. Im Mittelpunkt stünden vielmehr zugespitzte Fragestellungen, die Menschen würden mit provokativen und auf Emotionalisierung zielenden Fragen regelrecht traktiert. Kurze Interview-Ausschnitte würden, der Dramaturgie der Sendung folgend, aus dem Zusammenhang gerissen und wie Videoclips benutzt. Der Zuschauer verliere auf diese Weise den Blick auf den gesamten Menschen und auf dessen Geschichte. Ziel sei es, unterhaltend und möglichst spektakulär über Geschichte zu berichten, insbesondere die Redaktion Zeitgeschichte des ZDF unter der Leitung von Guido Knopp habe sich diesem Konzept verschrieben. Das Motto der Medienberater-Projekte an der TU Berlin laute dagegen "Wissen sichern ohne Histotainment": Um dem Missbrauch der Oral History in den Massenmedien entgegen zu steuern, setzen sich Studenten der Geschichtswissenschaft und der Medienwissenschaft, aber auch anderer geisteswissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Fächer mit dieser Problematik sowohl theoretisch als auch praktisch auseinander. Dabei gehe es nicht zuletzt um die soziale Verantwortung des Historikers und des "Medienmachers" in unterschiedlichen Berufsfeldern. Die Studenten lernen TV-Zeitzeugen-Interviews so zu planen, durchzuführen und zu veröffentlichen, dass die aufgezeichneten Gespräche den Maßstäben wissenschaftlicher Quellenkritik entsprechen und als Primärquellen für soziobiographische Forschung genutzt werden können. Die Zeitzeugen-Interviews mit Inge Deutschkron, Joseph Weizenbaum, Andrzej Wirth, Josef Tal, Jochanan Trilse-Finkelstein, Otto Rosenberg und Jizchak Schwersenz wurden von den Studenten nach sorgfältiger Recherche und nach der Diskussion verschiedener Oral-History Methoden im Wintersemester 2000/01 im Studio des Offenen Kanal Berlin aufgezeichnet und für die Ausstrahlung bearbeitet. Die siebenteilige Sendereihe "Zeitzeugen der NS-Zeit im Offenen Kanal" wurde von Oktober bis Dezember 2001 in Berlin erstmals ausgestrahlt. Außerdem entstanden mehrere Hörspiele, eine Website und eine Buchpublikation, die demnächst im LIT-Verlag erscheinen wird. Das Projekt leiste, so betonte von der Lühe, auf diese Weise wichtige Beiträge zu zwei Teildisziplinen der Medien- und Geschichtswissenschaften, zur Didaktik und zur geschichtswissenschaftlichen Quellenforschung. Das Praxis-Seminar "Zeitzeugen der NS-Zeit im Offenen Kanal Berlin" kann daher als Pilotprojekt für die Einbeziehung praktischer Medienarbeit in die universitäre Ausbildung von Historikern gelten.

In den Diskussionen der Referate wurde deutlich, dass die Darstellung der NS-Vergangenheit in deutschen Fernsehproduktionen noch weitgehend unerforscht ist, während die US-Serie "Holocaust" zumindest im medienwissenschaftlichen Bereich mit einer Reihe von Untersuchungen beachtet wurde. Weitgehend Übereinstimmung herrschte darüber, dass Film- und Fernsehproduktionen als zeitgeschichtliche Quelle anzusehen seien. Kritisiert wurde daher das Methodendefizit der Geschichtswissenschaft hinsichtlich audiovisueller Quellen, das in jüngerer Zeit im Zusammenhang mit der Kontroverse um die Wehrmachtsausstellung sogar einer größeren Öffentlichkeit bewusst wurde. Kritisch gesehen wurde auch der Umgang mit Oral History, die nach Meinung zahlreicher Diskussionsteilnehmer zu Unrecht ein Schattendasein in der deutschsprachigen Historiographie führe. Gefordert wurde mehr Interdisziplinarität des Faches, beispielsweise eine Erweiterung des Horizonts vom Rückblick auf die barocke Emblematik (Abbild wird Sinnbild) bis hin zu einer neuen Pädagogik des Erinnerns. Viele Debattenredner wiesen darauf hin, dass die deutschsprachige Geschichtswissenschaft traditionell zu sehr auf schriftliche Primärquellen fixiert sei - dieses Defizit sei ein Nachteil insbesondere für die zeitgeschichtliche Forschung, die in stärkerem Maße audiovisuellen Primär-Dokumente berücksichtigen müsse. Als alarmierend wurde empfunden, dass die Geschichtswissenschaft im deutschsprachigen Raum offenbar nicht darauf reagiere, dass Unterhaltungsmacher in Film und Fernsehen das Geschichtsbild bestimmen, weit mehr als der Geschichtsunterricht und Printmedien. Dies zeige die Notwendigkeit einer Historiker-Ausbildung an den Hochschulen, die auch die Medien in Theorie und Praxis berücksichtige.

Kontakt

E-Mail-Adressen der Referenten:
PD Dr. Barbara von der Lühe: bvdluehe@12move.de
Prof. Dr. Edgar Lersch: edgar.lersch@swr.de
Prof. Dr. Hans-Bernhard Moeller: h-b.moeller@mail.utexas.edu
Prof. Dr. Reinhold Viehoff: viehoff@medienkomm.uni-halle.de
Dr. Kathrin Fahlenbrach: fahlenbrach@medienkomm.uni-halle

www.historikertag.de